Die Verantwortung
des Therapeuten für das Ganze
 

Gesellschaftspolitisch gesehen, haben sich in den oben genannten Psycho- Modellen Gegenwelten oder Subkulturen etabliert, welche nur noch einen losen Bezug zur Wirklichkeit haben. Würde dies nun lediglich zu sektiererhaftem Verhalten führen, verbunden z.B. mit einer Ablehnung von Konsum, der Betonung einer Diät bzw. Lebensweise oder dgl., wäre das noch kein Problem. Unsere Gesellschaft verkraftet viel, auch diese Exzentriken und manchen Wahn.

Aber MPS und verwandte Konstrukte neigen dazu, im Leben ihres "Trägers" immer mehr Raum einzunehmen, so daß eigene produktive Arbeit und eine Mitgestaltung der Umwelt zunehmend unmöglich werden. Diese Menschen werden zum Sozialfall, "neurotisch und finanziell unterstützt", wie seinerzeit Nietzsche, wie er gefangen in einer eigenen inneren Welt. Hier trifft der Vergleich nicht völlig zu. Bei Nietzsche war wie bekannt eine irreversible Erkrankung (Syphilis) der Grund seiner pathologischen Weltsicht. MPS ist vergleichbar einer Infektion durch geistige Ansteckung.

Auch in der Sektenberatung beobachten wir die Tendenz, Sektenaussteiger wie klinisch Kranke zu behandeln [Hillecke, Säuberlich 1993] und umgekehrt die zunehmende Neigung der Aussteiger, ein solches Leistungsverhalten von der Solidargemeinschaft einzufordern. In beiden Fällen wird der Krankheitsgewinn sehr hoch und ein Verbleiben in "normalen" Lebensbezügen unattraktiv. Wie bereits Gehlen formulierte, ist der "außerordentliche Anpassungsdruck unserer Gesellschaft" für eine ganze Reihe von Menschen zu massiv. Sie steigen aus dem geforderten  Leistungsschema aus. Das ist keineswegs von vorn herein zu verurteilen, gibt es doch gerade in unserer Kultur vielfältige Lebensmöglichkeiten. Diese Aussteiger verfehlen aber oft auch die alternativen Angebote einer beruflichen und persönlichen Entfaltung. Wer aber sich selbst um jeden Preis, d.h. ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen und ohne Unterstützung durch die Institutionen unseres kulturellen Umfeldes verwirklichen will, hat seine Selbstverwirklichung bereits verspielt.

Ein Therapeut muß sich besonders an diesem heiklen Punkt seiner Verantwortung für das Ganze bewußt sein. Hinter vielen Therapiekonzepten verbirgt sich eine pseudoreligiöse Erlösungsbotschaft, welche die reale Welt als Ort des Konsumterrors, menschlicher Kälte, Manipulation durch Medien usw. anprangert. Dieser "Megamaschine" der Ausbeutung gegenüber wird ein "Gelobtes Land" aufgezeigt, in dem alles besser ist. Eine Welt wird geschildert voll Liebe, Kreativität, menschlicher Offenheit, Selbsterfahrungsgruppen, ohne Leistungsdruck und so weiter.

Abgesehen von der Frage, wer diese "neue" Welt dann noch mit seiner Hände Arbeit trägt und die vielen Therapiesitzungen bezahlt, gibt es einen zweiten Grund, warum dieses Weltbild  ungeeignet ist,  Menschen dauerhaft zu heilen. Es unterstützt labile und unrealistische Lebenseinstellungen und führt im Sinne einer operanten Konditionierung zu infantilen Verhaltensweisen. Angesichts der unvermeidlichen Konfrontation mit der Realität, welche während des  Therapiezeitraums erschwerenderweise noch in düstersten Farben gemalt wurde, kann es zum Scheitern des gesamten Lebensentwurfes führen. Die weitere Flucht in die Krankheit oder den Suizid sind damit vorprogrammiert, hier schließt sich ein Teufelskreis.
Demgegenüber entlasten die neuen  kurzzeittherapeutisch orientierten Beratungsangebote ihre Patienten auch insofern, als sie rasch und umfassend wieder die volle Kompetenz über ihre Lebensführung zurückerhalten.

Natürlich werden selbst ideologisch geprägte Psychologen kaum noch kämpferische Patientenkollektive aufstellen wie im Heidelberg der 68´ger. Aber tragen nicht auch andere zu einer Blockade unseres Gesellschaftssystems bei, z.B.  indem sie Patienten endlos lange für krank erklären?

Geradezu peinlich wird es für das gute Image des Fachs, wenn dann noch im Namen der Psychologie die Lebenshilfegurus das Wort ergreifen. Auch hier ist nicht alles, was verkündet wird, a priori falsch. Die Entscheidung, ob dies ein bunter Jahrmarkt der Möglichkeiten ist, welcher immerhin Anregungen geben kann, oder eher ein Sperrmüll abgelegter Ideen, liegt bei jedem Einzelnen selbst. Aber hier sollten mehr die kritischen Stimmen zu Wort kommen und nicht nur allein jene, die mit volltönenden, aber hohlen Formeln teure Patentrezepte feilbieten.

In diesem bunten Durcheinander zeigt sich immer noch ein gewisses Dilemma der Psychologie, welches sich zu einem bissigen Wort Voltaires über die Ärzte in Beziehung setzen läßt: "Sie bringen Drogen, die sie nicht kennen, in Körper, die sie ebensowenig kennen." Auf unser Thema bezogen bedeutet das, viele Therapeuten wenden Methoden, die ihnen selbst oder einigen Klienten verläßlich geholfen haben, bei allen an und wollen nicht wahrhaben, daß dies nicht bei allen Problemen hilft, vergleichbar den Ärzten zu Voltaires Zeiten, die bei allen Gelegenheiten den Aderlaß  anwendeten.

Damals wie heute ignoriert man die neueren Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und verschanzt sich im einmal gelernten System. Therapiekonzepte ohne öffentliche Qualitätskontrolle, Therapeuten, welche als Priester eines Mythos und nicht als professionelle Helfer auftreten, gehören in die Vergangenheit. Die neueren, naturwissenschaftlich orientierten Erkenntnisse und Verfahren in der Psychologie werden kräftig dazu beitragen, die Spreu vom Weizen zu trennen.
 



 
 
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aktualisiert am 16.03.03

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