Hommage  an 
Pierre Janet

 

Kurzdarstellung von Janets Lehren in Thesenform

1. Janet zufolge ist die Grundursache der seelischen Störung das „abaissement du niveau mental“. Damit meinte er die Abschwächung der Bewußtseinsschwelle. Wie später C.G.Jung und Bleuler, bemerkte Janet, daß psychische Erkrankungen mit einem Verlust an Konzentration einher gehen. Die Aufmerksamkeit für Vorgänge im Außen erlischt, die Zerstreutheit nimmt zu. Ein weiterer Indikator ist häufig ein gestörtes Zeitgefühl. Bei den historischen Vorläufern der Psychotherapie findet sich das Krankheitsbild unter Begriffen wie "Melancholia" bzw. "Acedia".

2. Für Janet war seelische Gesundheit eine Sache der „psychologischen Spannung“. Sinkt diese psychologische Spannung, z.B. durch Krankheit, Unterforderung oder Langeweile ab, beginnt das "abaissement du niveau mental“ zu wirken: Das betroffene Individuum wird anfällig für Ängste, neurotische Gedanken und Zwänge, welche ihr in gesünderem Zustand absurd vorkämen. Ähnliches erleben wir während persönlicher Lebenskrisen oder auch in kleinerem Maßstab allnächtlich im Schlaf.

3. Normalerweise tritt dieser Ablauf immer dann ein, wenn ein Mensch mit einer Aufgabe konfrontiert wird, welche ihm über seine Kräfte zu gehen scheint oder wenn ihm diese Anforderung öde und langweilig vorkommt. Dann kommt es zu einem Verlust psychischer Energie, welche sich als Mutlosigkeit, als Erschöpfung oder als innere Kündigung manifestieren kann. Dieser Balance - Akt zwischen Über- und Unterforderung wird in der Forschung Cziksentmihaliys unter dem Stichwort "FLOW"- Kanal beschrieben.

4. Umgekehrt ist es möglich, durch eine gewisse straffere Lebensführung, durch ein engagiertes Herangehen an seine Probleme, durch persönliches Interesse und eigene Motiviertheit, diese Spannungsebene zu erhöhen. In diesem Fall ist das Ergebnis eine gesteigerte persönliche Energie, Vitalität und Kraft, Das bedeutet, daß wir bis zu einem bestimmten Grad für unserer seelische Verfassung selbst verantwortlich sind.

5. Was aber verursacht die seelische Störung? Indem ein Mensch solche negativen Abläufe immer öfters zuläßt, sie sozusagen "eintrainiert", wird es ihm mit jedem Mal schwerer fallen, eine andere, gesündere Verhaltensweise zu aktivieren. Be-kannt ist der Zustand einer Regression nach einer Lebenskrise, Krankheit oder persönlichen Niederlage. In solchen Situationen erscheint alles aus einer anderen Perspektive. Selbst alltägliche Aufgaben sind dann scheinbar nur noch mit enor-men Kraftaufwand zu bewältigen.

6. Unser Problem als erwachsene, mündige Menschen ist es im Grunde, uns den Bedingungen des Lebens anzupassen und nach Möglichkeit dabei geistig auf ei-ner gewissen Höhe zu sein. Zu dieser "reifen Anpassung" sind wir in der Lage, wenn uns ein Gefühl von Motiviertheit und Sinnerfahrung begleitet. In dem Au-genblick, wo wir uns den Problemen stellen, rufen wir psychische Energie ab. Das erklärt auch, warum ein psychisch gesunder Mensch Herausforderungen gern annimmt, lernfähig und flexibel bleibt und lange Phasen der Inaktivität und der übertriebenen Passivität nicht schätzt.

7. Im Grunde entwickelte Janet als erster Psychotherapeut ein Konzept, sich gewissermaßen selbst aus der Krise heraus zu begeben. Mit einer Stärkung seiner Realitätsfunktion kann sich der Mensch aus dem Sog der einseitigen Innenwahrnehmung befreien. Damit wird er auch imstande, mit optimistischer Entschlossenheit seine Lebensführung wieder selbst in die Hand nehmen.

8. Ähnlich beschreibt Csikszentmilhalyi gerade bei Krisen die Verankerung in der Außenwahrnehmung als wichtige Grundlage für "FLOW" -Erlebnisse. Auch Kreativität entsteht nicht auf einer einsamen Insel. Insofern alle diese Entwürfe auf die Außenwelt als Stimulus hinweisen, entsteht ein Gegengewicht zu jener oft fruchtlosen Mischung von Nabelschau und Introspektion, welche hierzulande auf dem Psychomarkt als „Selbsterfahrung“ angeboten wird.
Echte Selbsterfahrung kennt ihre Grenzen und weiß davon, daß man sich nicht aus seinen Pflichten und dem Umfeld seiner Mitmenschen davon stehlen kann.

9. Die Ansätze Janets und Csikszentmilhalyis nehmen im Grunde das alte Konzept wieder auf, welches von den Akademien der Renaissance bereits zu einem kompletten therapeutischen System ausgebildet worden war. Über die Jahrhunderte hinweg kommen beide Richtungen zur gleichen Aussage, nämlich, daß das seelische Problem der Müdigkeit und Mutlosigkeit, ja sogar der Depression (s.unser Beitrag über Melancholia) lösbar ist. Die Rettung aus dem Teufelskreis kann jedem gelingen, wenn mit Beharrlichkeit und Geduld daran gearbeitet wird.

10. Der Renaissance-Heiler fügte an dieser Stelle noch hinzu: "deo concendente" - wenn es Gottes Wille ist; dies muß gewissermaßen zur eigene Anstrengung hin-zukommen. Selbsterlösung ganz aus eigener Kraft ist nicht möglich. Die moderne Psychologie wird dies kaum mehr in so direkter Form ausdrücken. Aber auch sie weiß darum, daß spirituelle Erfahrung und persönliche Geborgenheit in einem Glaubenssystem eine mächtige Hilfe sind. In jedem Fall jedoch muß das Individu-um eigenhändig damit beginnen, mit seinem freien Willen selbstgesetzte Ziele aufzustellen und diese nach und nach, je nach Zunahme der psychischen Energie immer besser, in die Realität umzusetzen.

"Gott ist nicht bereit, alles zu tun, und uns unseres Anteils an freiem Willen und des Ruhmes zu berauben, der uns gebührt."

Dieser Satz aus dem Renaissancewerk "Il Principe"  nimmt Janets positive und motivierende Psychologie vorweg. Es wäre zu wünschen, daß seinem Werk wieder eine größere Aufmerksamkeit zuteil wird - seine Leistungen als Pionier und Vordenker der Psychotherapie berechtigen ihn dazu.


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