Johanna Wagner - ein Leben zwischen den Kulturen
Der ethnopsychologische Hintergrund moderner Therapiemodelle

VII. Die Akkulturationsproblematik
Schwarzafrikas

In Schwarzafrika gibt es ursprünglicherweise eine Unzahl von regional und stammesmäßig definierten Traditionen, die aber zusammengenommen als eine kulturelle Einheit anzusehen sind; wenngleich verschiedene Gemeinschaften (Dorf, Clan, Stamm) verschiedene spezifische Riten, Totems, Symbole und Geschichtsmythen haben, so sind diese jedoch strukturell kompatibel, d.h. die allgemeine Denkungsart von Angehörigen verschiedener Stammestraditionen ist grundsätzlich ähnlich.
Die schwarzafrikanische Tradition ist mithin ursprünglich ein geschlossenes System. Der Begriff „Glaubenssystem“ ist dabei nicht hinreichend, da es sich um eine umfassende Lebensauffassung handelt. Ich denke, der Begriff der „Glaubensauffassung“ ist nur aus dem modernen europäischen Denken heraus zu verstehen, für welches die Aufspaltung der Weltsicht in getrennte, oft widersprüchliche Relevanzsysteme bezeichnend ist.

Diesem gewachsenen System an Stammestraditionen stehen heute die großen monotheistischen Religionen Christentum und Islam gegenüber, welche in Schwarzafrika eingebrochen sind und mit missionarischem Eifer auftreten. Zur Besonderheit der christlichen Mission -> Zur Eigenart afrikanisch - christlicher Religiosität.
Heutzutage gilt es bei vielen jungen Schwarzafrikanern als unmodern, die Stammestraditionen beizubehalten und die entsprechenden Verrichtungen (den Ahnen opfern, Tiere oder Amulette verehren etc.) auszuführen. Die entstehende kulturelle Gespaltenheit führt bei vielen Afrikanern zu massiven Akkulturationsproblemen.

Johanna Wagner versteht ihre Heilertätigkeit, die sie ausübt, in erster Linie als Reakkulturierungsarbeit. Dabei äußern sich die Probleme ihrer Klientel in erster Linie in Form von psychosomatischen Störungen. Die Therapeutin arbeitet eng zusammen mit einem schwarzen Mediziner westlicher Prägung, der in Paris studiert hat. In ihrer Zusammenarbeit übernimmt Frau Wagner pardoxerweise die Rolle des schwarzen Waganga, während ihr schwarzer Partner den Part des europäischen Arztes übernimmt.
Wichtig bei der gemeinsamen Arbeit ist, daß jeder Patient/Klient zu Beginn der Behandlung eingehend auf körperliche Krankheiten untersucht wird.
 
Die Autorin sieht als Hauptaspekt ihrer therapeutischen Arbeit die Versöhnung von Gegensätzen im spirituellen Bereich. Diese Aussöhnung hat zur Vorbedingung, daß den Klienten eine neue persönliche Option erschlossen wird. Die Autorin macht plausibel, daß es möglich ist, sowohl der einen neuen Religion anzugehören, aber parallel dazu auch den Ritualen der Vorfahren Achtung zu erweisen.

Folgendes Beispiel sei zur Illustration angeführt (Wagner, a.a.O., S.200 ff.):
Ein 22jähriger christlich-protestantischer Student leidet unter Leistungsabfall, Unkonzentriertheit und Schlaflosigkeit aufgrund eines religiösen Konfliktes. Wie bei vielen Konvertiten in Schwarzafrika beobachtbar, opfert der junge Mann weiterhin nach seiner alten Tradition; dabei hat er ein schlechtes Gewissen dem Christentum gegenüber, während er bei Unterlassung der Opferungen gegenüber der traditionellen Religion seiner Väter ein schlechtes Gewissen hätte. Diese Form religiösen Verhaltens wird in Afrika als "Fifty-Fifty" bezeichnet.

Johanna Wagner charakterisiert diesen Konflikt mit psychoanalytischem Vokabular als das Ausgestattetsein mit zwei verschiedenen Über-Ich. Ziel ihrer Behandlung ist die Versöhnung der beiden Über-Ichs:
„Es braucht nicht viel psychologisches Einfühlungsvermögen, um sich die verheerenden seelischen Folgen vorzustellen, die aus der Nichteinhaltung des Verbotes entstehen, den Ahnen zu opfern: der Nichtopfernde wird gleichsam zum Ahnenmörder. Er begeht also eine ethisch nicht vertretbare Tat und daraus entstehen Schuldgefühle. Weiter erwartet er die Rache dieser so schmählich behandelten Ahnen, was direkte Verfolgungskomplexe auslöst. Opfert er hingegen, „muß er bekennen“ und hat mit der Strafe Gottes zu rechnen. Anders als durch die Relativierung des Problems dürfte sich der tragische Konflikt nicht lösen lassen.“ (S.201)
Von Mal zu Mal wird L. gelöster, seine Beschwerden lassen nach und der Widerspruch zwischen seinen beiden Vorstellungen als solcher löst sich auf. Der Klient kann anschließend mit Erfolg weiterstudieren, und seine Beschwerden bleiben auch weiterhin aus.

Wie könnte man den therapeutischen Effekt dieser Vorgehensweise plausibel erklären? Folgende Punkte scheinen mir besonders wichtig:
 
1. die Person-Variablen des Therapeuten;
2. der Effekt der kognitiven Umstrukturierung;
3. der Entspannungseffekt;
4. der Effekt der positiven Verstärkung.

Diese Stichworte, etwas ausgeführt:
 

1. Der im Buch beschriebene „Identifikator“ ist nicht irgendein beliebiger Therapeut, sondern immer Johanna Wagner selbst. Nach allem, was man ihren Ausführungen entnehmen kann, fassen die meisten Menschen, mit denen sie in Afrika Kontakt hat, sehr schnell Vertrauen zu ihr, sodaß anzunehmen ist, daß sie als Person sehr gut eine therapeutische Grundbasis zu schaffen vermag.  Es ist weiterhin anzunehmen, daß die Autorin mit ihrer intimen Kenntnis afrikanischen Denkens einerseits und ihrer Ausstrahlung westlich-gebildeter Professionalität andererseits zu einer offenen therapeutischen Atmosphäre mit einer hohen Mitarbeitbereitschaft seitens des Klienten beiträgt. Zudem ist stets ein Afrikaner, der oben erwähnte Arzt dabei, der diesen Effekt noch verstärkt.

2. Der Dialogausschnitt aus dem Erstgespräch zeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit die Therapeutin den Widerspruch des Klienten auflöst. Sie macht ihm von vorneherein klar, daß alles denkbare für ihn auch guten Gewissens machbar ist und liefert dem Klienten Begründungen für das angstauslösende Verhalten des Priesters. Mit dieser Erklärung, welche den Annahmen und Ängsten von L. buchstäblich die Grundlage entzieht, ist bereits alles getan, die nachfolgenden Übungen befestigen auf der Erlebensdimension lediglich die zu Beginn erfolgte kognitive Umstrukturie-rung des Klienten.

3. Nachdem die kognitive Dissonanz im Erstgespräch durch die Erklärung des Therapeuten im Kern aufgelöst ist, wird im unmittelbaren Anschluß daran die Identifikationstrance eingeleitet. Da die Situation zu diesem Zeitpunkt bereits entsprechend entspannt ist, wirkt die Übung vor allem entspannungsvertiefend und bleibt dabei sogar noch bei der problematischen Thematik (die religiösen Gegenstände liegen auf dem Tisch).

4. Durch diese Koppelungen der gegensätzlichen inhaltlichen Aspekte. Opfer der Stammesreligion gegen die Ausübung christlicher Gottesverehrung einerseits und von Konflikt und Entspannung andererseits entsteht eine positive Verstärkung ge-genüber der neuen Betrachtungsweise. Durch die mehrfache Wiederholung festigt sich dieser positive Lerneffekt und der Klient erlebt ein ganz neues, entspanntes und nicht angstbesetztes Verhältnis zu seiner Religion, welches ihm noch dazu eine große Freiheit in Hinblick auf die Form der individuellen Verehrung gewährt.

 

zum Anfang dieser Seite

zur Hauptseite

aktualisiert am 18.09.99

Copyright beim Projekt Wegweiser, R.Schulz-Margrander, W.Dörge-Heller, Karlsruhe 1995